Viele Menschen in unserem Land haben das Gefühl, dass der Wind
rauer wird: Der gesellschaftliche Zusammenhalt scheint zu bröckeln,
manche haben Angst um den Wohlstand Deutschlands und
Verteilungskämpfe werden befürchtet. In diesem Klima besteht die
Gefahr, dass sich ein fragwürdiges Leitbild von Stärke entwickelt:
Diejenigen werden als stark betrachtet, die unnachgiebig ihre Ziele
verfolgen, die ihre Interessen rücksichtslos gegen andere
durchsetzen und schonungslos mit ihren echten oder vermeintlichen
Gegnern umgehen. Manchmal werden diese "Starken" vielleicht sogar
trotz aller moralischen Bedenken für ihr Auftreten insgeheim
bewundert.
Der Verfasser des Buches der Weisheit im Alten Testament hat
dagegen von der Stärke Gottes eine ganz andere Vorstellung: "Weil
du über Stärke verfügst, richtest du in Milde / und behandelst uns
mit großer Schonung; / denn die Macht steht dir zur Verfügung, wann
immer du willst" (Weish 12,18). Hier wird etwas über Gott gesagt,
das auch für unser Miteinander zumindest ein Ideal sein sollte,
aber in den Grabenkämpfen des Alltags häufig vergessen wird: Wahre
Stärke zeigt sich darin, dass man sich nicht zu einem Gefangenen
des schier endlosen Kreislaufs aus Aktion und Reaktion, aus Gewalt
und Gegengewalt macht, sondern die Freiheit hat, an der Stelle von
Rache mit Milde und Nachsicht zu reagieren. Denn diejenigen, welche
an die Rache glauben, liefern sich einer unheilvollen Spirale aus,
sie werden zu Geiseln ihres eigenen Handelns. Das Ergebnis ist das
Gegenteil von wahrer Stärke. Wir besitzen nicht Gottes absolute
Freiheit und unsere Möglichkeiten sind endlich, aber wir Menschen
sind als Gottes Ebenbilder dazu aufgerufen, uns von der Stärke und
Freiheit Gottes inspirieren zu lassen und immer wieder mit Hilfe
der Gnade Gottes einen neuen Anfang zu wagen. Auf diese Weise kann
eine Ahnung der göttlichen Stärke in unserem Alltag aufscheinen und
ihn so menschlicher machen.
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Die wahre Stärke
Stefan Bank, Katechet, katholische Gemeinde St. Joseph in Stadthagen
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