Dass wir immer eher das Negative sehen als das Positive, hat vor
einiger Zeit ein kleiner Test bei einer Fortbildung deutlich
gemacht. Die Teilnehmer bekamen ein Blatt Papier vorgelegt. Darauf
fünf Rechenaufgaben mit Lösungen. Dann wurden sie gefragt, was
ihnen auffällt. Einstimmig haben sie geantwortet, dass eine der
fünf Aufgeben falsch gerechnet war. Der Fortbildungsleiter gab
ihnen recht, bestätigte ihre Beobachtung. Aber er fragte dann:
Warum hat niemand geantwortet: "Vier von den fünf Aufgaben sind
richtig". Genau: Da haben wir es wieder: Weil wir zuerst das
Negative sehen, den Fehler, das Defizit, das Schlechte. Das fällt
uns auf, das Gute nehmen wir selbstverständlich hin.
Es gibt so Dinge, die ergeben sich von allein, die muss man nicht
lernen oder einüben und dazu muss man sich nicht anstrengen: Es
kostet keine Anstrengung, negativ zu reden und zu klagen und in
Selbstmitleid zu verfallen. Man muss es nicht einüben, Dinge zu
vergessen. Dass man Fehler macht und versagt, ergibt sich von
allein. Man muss nicht viel dafür tun, um krank zu werden oder
Krankheiten zu verbreiten. Ablehnung und harte Herzen entstehen wie
von selbst. Negatives und Mangel, Schwäche, Traurigkeit und
Ungerechtigkeit, sie kommen ohne unsere Anstrengung.
Es gibt nicht nur ein Fallgesetz im physikalischen Bereich: alles
fällt nach unten, alles wird nach unten gezogen. Dasselbe gilt auch
im Seelischen und Geistlichen: Da geht es sofort bergab, es sei
denn, man geht dagegen an!
Anheben und aufheben ist dagegen schon schwieriger, manchmal auch
zu spät. Einen Schlüssel, der mir aus der Hand fällt, kann ich
wieder aufheben. Von einer Schüssel, die mir runterfällt, kann ich
meistens nur noch Scherben zusammenfegen. Positiv werden, Dinge an-
und aufheben, wie geht das? - Nun ein Patentrezept dafür habe ich
nicht. Nur ein paar Vorschläge für mögliche Versuche: Ich kann
versuchen, mich in meine Mitmenschen hinein zu versetzen, das Gute
in ihnen zu suchen. Das Gedächtnis kann ich bis zu einem gewissen
Grad trainieren. Meine Fehler kann ich eingestehen und versuchen,
sie zu vermeiden oder für sie um Verzeihung bitten. Ich kann
Ungerechtigkeiten, die ich sehe, benennen und ich kann versuchen,
Trost gegen Traurigkeit zu finden. Das alles sind jedoch Dinge, die
sich nicht von alleine ergeben. Hier bin ich gefragt und muss mich
sicher auch anstrengen. Und es wird mir all das nicht sofort
gelingen. Aber es ist durchaus einen Versuch wert. Und eine
einfache Übung dazu ist Freundlichkeit. Davon bin ich überzeugt.
Meine Mitmenschen respektieren und achten. Das finde ich ganz
wichtig, ebenso wie deren positive Eigenschaften zu erkennen und zu
loben.
Vor diesem Hintergrund lese ich den 2.Vers aus Psalm 103: Lobe den
Herrn meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Gott will uns die Augen dafür öffnen, dass wir nicht zuerst das
Schlechte sehen. Nicht aneinander und nicht an Gott. Wir sehen ja
oft am Mitmenschen zuerst seine Defizite. Was er alles nicht kann.
Welche Fehler er macht. Wo er den Ansprüchen nicht genügt. Unseren
Ansprüchen. Und gegenüber Gott ist es oftmals auch so: Wir sehen,
dass Gott unsere Wünsche nicht erfüllt, unsere Gebete nicht erhört,
dass er anderen mehr Glück im Leben gibt als uns. Der Blick aufs
Defizit: Wir sind misstrauisch, ob Gott es wirklich gut mit uns
meint, Der Vers aus Psalm 103 will unseren Blick verändern: Das
Gute sollen wir ansehen. Bei anderen Menschen und bei Gott.
Entdecken sollen wir, dass wir längst reich gesegnet sind. Wo wir
das Schlechte erwarten, schenkt uns der gute Gott Zeichen seiner
Liebe. Nur manchmal merken wir es nicht gleich. Die guten Dinge im
Leben, die wirklich wichtig sind, gibt es nicht auf Bestellung. Die
Kleinigkeiten, die das Leben schön und kostbar machen werden nur
allzu leicht als selbstverständlich hingenommen. Dabei sind sie ein
Geschenk - ein Geschenk von Gott.
Die schönsten Dinge im Leben sind ein Geschenk. Lobe den Herren
meine Seele und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
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Ein Geschenk
Irmtraud Brendel, Lektorin in der St. Nikolai-Gemeinde Rinteln
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