1. "Wir können nicht einfach vergessen"

    "Erinnerungskultur" beim Empfang des Kirchenkreises

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    RINTELN (km). "Gedenkfeiern und kein Ende" - so lautete das Leitmotiv beim neunten Reformationsempfang des Evangelisch-lutherischen Kirchenkreises Grafschaft Schaumburg. Superintendent Andreas Kühne-Glaser konnte dabei im Ratskellersaal rund 80 Gäste begrüßen. Dabei manifestierten sich zum Abschluss des Reformations-Jubiläumsjahres einige durchaus kritische Gedanken. Andreas Kühne-Glaser hatte bei der Begrüßung bereits Zweifel daran geäußert, ob man sich allenthalben "richtig erinnern" könne - und sah sich nach dem Referat von Gastrednerin Dr. Ulrike Jureit bestätigt: "Jetzt werden Sie die vergangenen Feierlichkeiten (im Luther-Jahr) jetzt in einem vollkommen anderen Licht sehen." Die Referentin hatte zuvor als thematischen Einstieg das "berühmten" Zitat einer Astrid-Lindgren-Figur gewählt: Mit dem Satz "Das stört keinen großen Geist" hatte "Karlsson vom Dach" immer wieder kleine Katastrophen zu harmlosen Fauxpas degradiert. "Dies ist ein geistlich Ding", sei allerdings die korrektere Übersetzung gewesen, so die Historikerin, die auf diese Weise auf die Spur der "Weltlichkeit der Welt" geriet, die mit dem Beginn der Reformationszeit deutlich geworden sei. Im ausgehenden Luther-Jubiläumsjahr hätten sich nahezu alle Gedenk-Ansprachen auf den 17. Juli 1517 fokussiert. Dabei sein die Welt zu jener Zeit eine vollkommen andere, kaum nachvollziehbare gewesen, und zwar nicht nur politisch, wirtschaftlich und sozial, sondern praktisch in jeden Beziehung.

    Ob, grundsätzlich, "eine von Judenfeindschaft und anderen Ressentiments getriebene ‚vormoderne Existenz‘ wie Martin Luther überhaupt jubiläumsfähig" sei - und wer dann gegebenenfalls "Luther vor seinen Lobrednern schützt", das hätte eigentlich wissenschaftlich exakter untersucht werden müssen, so Dr. Ulrike Jureit: Wie in der Archäologie müssten alle verschiedenen Schichten der Zeit "abgetragen" und analysiert werden. Luthers Freiheitsbegriff, nahm die Historikerin vorweg, habe sich fundamental von einem aufklärerischen Verständnis unterschieden, wie es später für die beginnende Moderne grundlegend geworden sei, und auch "jedwede Form von Toleranz" sei fern von dem, was die religiösen Erneuerungsbewegungen des 16. Jahrhunderts ausgezeichnet habe. Aus heutiger Sicht scheine es darüber hinaus kaum noch möglich, "historische Großereignisse zu vergegenwärtigen, ohne danach zu fragen, welches Identitätsangebot diese Vergangenheit für uns heute bereithält." Das überrasche nicht, wenn man sich vor Augen halte, "dass unsere Erinnerungskultur, vor allem in Deutschland aufgrund der Geschichte des Nationalsozialismus, bereits seit Jahrzehnten zu einer von Identitätsfragen gesteuerten Naherinnerung neigt." Die aktuellen Anstrengungen zum Reformationsjubiläum 2017, so Dr. Ulrike Jureit schließlich, verdeutlichten zwar hinlänglich den Wunsch, sich identifikatorisch auf den 31. Oktober 1517 zu beziehen. Es sei andererseits aber "überaus beschwerlich, historische Bezugsereignisse früherer Epochen in ihrer zeitgenössischen Komplexität jenseits vorschneller Skandalisierungen und affektgesteuerter Mitmachangebote zu vergegenwärtigen." An den zunehmend touristisch und kommerziell gestalteten, gleichwohl als authentisch deklarierten Orten wolle Geschichte heutzutage offenbar weniger erlernt, reflektiert oder verstanden werden: "Sie will vor allem erlebt und gefühlt werden." Foto: km

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