1. Die Menschen bleiben im Gedächtnis

    Erinnerung an die Pogromnacht vor 79 Jahren an der Strullstraße / Gedenkstunde am ehemaligen Platz der Synagoge

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    OBERNKIRCHEN (wa). In Obernkirchen hießen sie Bernhard und Meta Scheiberg, Hannelore Stern, ihr Vater Benno, ihr Onkel Jacob Steinberg. Elias und Anna Lion. In den Nächten vom 9. bis 12. November 1938 wurden in Deutschland, Österreich und im Sudentenland ungefähr 1200 Synagogen und Betsäle entweiht und verwüstet, hunderte von ihnen niedergebrannt. Das geschah auch im Schaumburger Land. "In jenen Tagen demolierten Nazis und ihre Helfer Tausende Geschäfte jüdischer Eigentümer und Wohnungen jüdischer Bürger, terrorisierten Hunderttausende Menschen und schändeten zahllose Friedhöfe. Sie ermordeten etwa hundert Menschen, verhafteten 30.000 Männer, verschleppten sie in Konzentrationslager und misshandelten sie dort Wochen lang. Über 2.000 von ihnen kamen zu Tode", berichtet Superintendent Andreas Kühne-Glaser während der Gedenkstunde an der Strullstraße, an der einst die Synagoge in Obernkirchen stand. Rolf-Bernd de Groot und Günter Schlusche schreiben in ihrem Buch "Jüdisches Leben in der Provinz"über die Taten der SS in der Nacht zum 10. November hier in Obernkirchen. Ein Auszug: Kurz nach Mitternacht beginnen die gezielten Übergriffe in der Strullstraße. Eine Gruppe dringt in das jüdische Gemeindehaus ein. Die hohen Fenster des Synagogenbaus werden eingeschlagen. Das Gestühl der Frauenempore fliegt runter in den Betsaal. Dort rafft man in alle eile Stühle, Bänke, Gesangbücher und weiteres brennbares Material zusammen. In der Mitte des Raumes setzt ein SS-Sturmmann den Haufen in Brand. Das Feuer wird kontrolliert, bis alles heruntergebrannt ist. Auf keinen Fall will man einen Häuserbrand in der eng bebauten Strullstraße riskieren. Der Rest des Mobiliars wird durch die Fenster auf die Straße geworfen. Nur den Thoraschrein findet man angeblich leer vor. Während das Feuer im Betraum vor sich hin brennt, werden die Fenster der Lehrerwohnung im Vorderhaus eingeworfen und beim dortigen Mieter die Türen eingetreten. Die Lehrerwohnung und die Unterrichtsräume werden befehlsgemäß nach vorhandenem Archivmaterial der Synagogengemeinde durchsucht, das im Betraum nicht gefunden wird. Die Mieter der Erdgeschosswohnung im Vorderhaus, Bernhard Scheiberg und Ehefrau Meta, sind erst kurz vorher, nach der erzwungenen Kündigung der alten Wohnung in der Beeker Str., hierher verzogen. "Leber-Scheiberg", wie er in Beeke genannt wird, lebt vom Aufkauf frisch geschlachteter Schweine- und Kalbsleber, die er zum Weiterverkauf in die Markthalle nach Hannover bringt. Nennenswerte Bargeldbestände zur Konfiszierung findet man bei Scheibergs nicht vor. Als der SS-Trupp abzieht, kündigt man Bernhard Scheiberg schon an, dass man in ein paar Stunden wiederkommt, um ihm abzuholen. Das Kaufhaus Adler ist Ziel der nächsten Attacke. Beide Schaufenster, links und rechts neben dem Eingang, gehen zu Bruch. Die gesamte Auslage, Mäntel, Hosen, Krawatten, Turnkleidung, Schaufensterpuppen und Dekoration liegen auf der Strasse. Genauso geht der Trupp beim Textilkaufhaus Lion vor. Aus der Bevölkerung beteiligt sich niemand an den Übergriffen. Es bleibt ruhig in der Stadt. Auch als am frühen Freitagmorgen gegen 6 Uhr die Verhaftungen beginnen und die jüdischen Männer in Gruppen zum Ortsgefängnis gebracht werden, zeigt sich kaum jemand auf der Straße. Die Frühschicht auf Schauenstein hat gerade begonnen. Die Nachtschicht liegt bereits im Bett und die Geschäfte öffnen erst Stunden später. Im Wohnhaus Stern in der Neumarktstraße sitzt die kleine Hannelore gerade am Küchentisch, als es an der Tür klingelt und zwei schwarz uniformierte Männer ihren Vater Bendix, genannt Benno und ihren Onkel Jacob Steinberg auffordern, umgehend mit ihnen zu kommen. Benno Stern hat nur wenig Bargeld in der Brieftasche, die Ladenkasse ist leer. Er stellt stattdessen einen Verrechnungscheck aus, den er den beiden Männern, gegen Quittierung des Empfangs, aushändigt. Beim Schumacher Ranke bewohnt seit über 25 Jahren Elias Lion die erste Etage zur Miete. Dort dringen zwei SS-Leute ein. Bei der Sucher nach Bargeld muss Elias den Wandtresor im Wohnzimmer öffnen, worin sich 713,13 Reichsmark befinden, die bis auf den letzten Pfennig beschlagnahmet werden. Er muss sich ankleiden, die Schlüssel für das Textilhaus mitnehmen, wird verhaftet und abgeführt. Anna Lion steht daneben, holt ihm den Mantel, fragt die beiden Männer, wie lange er fortbleiben wird, bekommt keine Antwort. Steckt ihm Medikamente in die Tasche und versucht genauso gefasst zu bleiben wie ihr Mann. Erinnern an den 9. November 1938 ist Qual. "Wenn wir uns heute - wie jedes Jahr am 9. November - wieder erinnern, dann tun wir das nicht, um uns selbst oder andere zu quälen. Aber wir haben Freude am Leben. Wir haben Freude an der Freiheit. Wir haben Freude an jedem Menschen, mit dem wir in dieser Stadt und in unserem Land in Frieden zusammen leben dürfen. An jedem, der sich in diese Gesellschaft mit seinen Gaben und Fähigkeiten, mit seiner Einzigartigkeit und Menschenwürde einbringt - gleich welcher Herkunft und Abstammung, Nationalität, Religion, sexuellen Orientierung, Geschlechts dieser Mensch ist. Für diese Freude, für diese Lebenshaltung, für dieses Bild von unserem Zusammenleben stehen wir ein. Und weil wir dafür einstehen, können wir nicht wegsehen, wo ein solches Leben in Freiheit und Würde, nicht möglich war, nicht möglich ist und nicht möglich sein wird. Wir sind verbunden mit denen, die vor uns gelebt haben und mit denen, die nach uns leben werden", so Kühne-Glaser weiter. Foto: wa

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