1. Politik braucht Unterstützung der geistlichen Kräfte

    Heiner Geißler appelliert an die Menschlichkeit: Nächstenliebe sei eine Pflicht / Die vielen Spaltungen in der Welt beenden

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    RODENBERG (jl). Als erstes hat Heiner Geißler die Leselampe an seinem Tischchen ausgeknipst. Sein themalieferndes Werk klappte er nicht einmal auf, ein Manuskript: Fehlanzeige. "Wenn ich ein Buch schreibe, dann muss ich auch alles im Kopf haben", schmunzelte der 87-Jährige in der ausverkauften St.-Jacobi-Kirche. Die 200 Gäste erlebten einen gut gelaunten Bundesminister a. D., der sich für die einleitende Darstellung seines Lebenslaufes höflich bedankte und später schmunzelnd feststellte, dass bei der "Kinderentstehung" wohl niemand an die Zukunft seines Landes denke. Vor allem aber erlebten sie eine nachdenklich stimmende Ernsthaftigkeit. Die Lesung (als solche hatte die "Kulturkirche" ihr Highlight angekündigt) war mehr als eine Antwort auf die Frage "Was müsste Luther heute sagen?". Sie war ein bewegender Appell an die Menschlichkeit.

    Eindringliche Stille kehrte in das Gotteshaus ein, als der einstige CDU-Generalsekretär auf die Missstände in der Welt aufmerksam machte: "In dieser Minute, in der wir hier sitzen, werden hunderttausende Menschen, Frauen, geschlagen und vergewaltigt, andere zu Tode gefoltert." Frauen – ein Thema, das Geißler offensichtlich am Herzen liegt. Keine andere Bevölkerungsgruppe auf der Erde werde mehr schikaniert, diskriminiert und misshandelt. Ein "dunkles Geheimnis" sei die häusliche Gewalt. Geißler, sichtlich bewegt, rief dazu auf, sich für Frauenrechte einzusetzen. Schon Luther habe den Männern gesagt, ihre Frauen nicht zu schlagen. Zudem habe er eine "Großtat" vollbracht, als er das Predigeramt für das weibliche Geschlecht öffnete, so der rüstige Katholik und einstige Jesuitenschüler: "Da ist die evangelische Kirche der katholischen 500 Jahre voraus." Nach anderthalb Stunden, die neben dem Wirken des Reformators auch von Anekdoten aus Geißlers eigenen theologischen wie politischen Anfängen erzählten, kam der Referent zur Feststellung: die Nächstenliebe sei keine "Gefühlsduselei", sondern eine Pflicht. Luther, ein mutiger Mann, der keine Angst vor Obrigkeiten hatte, müsste heute sagen: "Macht nicht die Fehler von damals, redet auf Augenhöhe miteinander und beendet die vielen Spaltungen in der Welt." Die katholische Kirche forderte Geißler auf, von ihrem Dogma der Unfehlbarkeit des Papstes herunterzukommen. Und die Protestanten täten gut daran, mit ihrer Kleinstaaterei aufzuhören. Jesus, der zwei Milliarden Menschen in ihrem Glauben verbindet, nannte er den "größten Global Player"; die Behauptung, Politik und Religion hätten nichts miteinander zu tun, "lächerlich". Die Kirchen müssten sich einig und ihrer politischen Verantwortung bewusst werden. Ob Armut in Afrika, Krieg in Syrien oder die Tatsache, dass es "auf der Welt Geld wie Dreck gibt", es nur die falschen Leute hätten: "Das muss die Kirche thematisieren", verlangte Geißler unter Beifallsbekundung. Auf die horrenden Börsenumsätze regte er eine Finanztransaktionssteuer an – jenes Geld könne die UNO in humanitäre Hilfe investieren. Luther habe, wie vor ihm schon Jesus, "Krach gemacht". Geißlers eindringlicher Wunsch: "Dass wir alle den gleichen Mut haben, unsere Stimme für eine humane und gerechte Weltwirtschaft zu erheben." Foto: jl

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