Rund 600 kleine gelbe Zettel sind im Boden befestigt und jeder davon markiert den Fundort eines Reliktes aus Rehburgs Vergangenheit. Schnell wehrt Berthold, der als Kommunalarchäologe in den Landkreisen Nienburg und Schaumburg für diese Grabungsstelle verantwortlich ist, aber ab: keine Reichtümer, keine Dolche, Figuren, Helme oder ähnliches sind gefunden worden. Nur einige Musketenkugeln, Gürtelschnallen und Münzen hat der Boden zutage gefördert. Das Spektakuläre, auf das er schaut, sind aber alte Baumstämme und an ihnen erklärt er auch das Pech der Erbauer und die Eigenarten des Rehburger Ortskerns.
Dort, wo jetzt der Rehburger Orstkern ist, war nämlich schon zu Urzeiten ein mooriger Untergrund, der in erster Linie eines war: denkbar ungeeignet für Siedlungen. Dass dennoch genau an jener Stelle einst die Reheburgk entstand, die später Rehburg zu seinem Namen verhalf, und dass um diese Befestigungsanlage herum Menschen siedelten, hängt mit einigen geografischen Faktoren zusammen. Einer der Hauptverkehrswege der Umgebung im Mittelalter verlief an jener Stelle und war wohl ein so genannter Knüppeldamm. Dieser Damm hatte prinzipiell ebenfalls unter dem Untergrund zu leiden. Allerdings waren seinem Verlauf nach Osten wie auch nach Westen natürliche Grenzen gesetzt: östlich befand sich schon damals das Steinhuder Meer, westlich hingegen die Weser, sodass die Route sich natürlich irgendwo dazwischen ergab. Die Verbindung von jenem Meer zur Weser war schon damals der Steinhuder Meerbach. Und findig waren nun jene, die die Reheburgk bauten – sie entschieden sich für einen Platz direkt an der Kreuzung von Meerbach und Knüppeldamm. An diesem Engpass konnten Feinde früh bemerkt und auch einfacher zurückgehalten werden. Außerdem ließen sich Wegzölle leichter erheben, wenn kein Umweg möglich war. Dass es damals keine schlechte Idee war, in der Nähe einer solchen "Burg" zu siedeln, die notfalls Schutz bieten konnte, erklärt die Entstehung des Ortes. Da war dann aber eben noch diese leidige Sache mit dem moorigen Untergrund. Um dem beizukommen, gab es nur eine Lösung: in den Boden mussten Pfähle gerammt werden, die als Fundamente dienen konnten. Aufwändig waren solche Konstruktionen. Den Aufwand war es aber anscheinend wert. Die Reheburgk selbst ist auf solchen Holzstämmen gegründet und von ihnen ließe sich wohl mancher noch finden, wenn das heutige Rathaus Rehburg-Loccums abgetragen würde. Denn genau dort, wo einmal die Reheburgk war, steht nun das Rathaus. Die Baustelle, auf der Berthold erläutert, was er gefunden hat, liegt dem Rathaus gegenüber. Demnächst soll dort ein Stadtplatz entstehen. Bevor aber die Baumaschinen anrücken dürfen, haben die Archäologen Gelegenheit zu graben, zu forschen, zu suchen und Schlüsse zu ziehen. Schlüsse zieht Berthold aus jenen Pfählen, die immer noch im Boden stecken. Zu einer mittelalterlichen Bebauung auf diesem Platz gibt es keine Dokumente und doch haben die Archäologen etliches frei gelegt, das genau darauf hindeutet. Ein vier bis fünf Meter breiter Streifen ist es, im dem sich die Pfähle drängen. Auf ein wenig Spekulation mag sich der Archäologe einlassen: Es könnte sein, dass dort in langer Reihe Gebäude gestanden hätten. Zumindest seien es keine Hühnerställe gewesen – für die hätte niemand Eichenstämme von 40 Zentimeter Durchmesser in den Boden gerammt. Wohnhäuser könnten es also gewesen sein. Die lange Gerade, auf der die Stämme verlaufen, könne aber auch auf eine Verteidigungsanlage hinweisen. Womöglich sei es westlich davon so moorig gewesen, dass kein Durchkommen bestand. Leichten Zwang, den Hauptverkehrsweg mit allen seinen Vor- und Nachteilen zu nutzen, habe diese Barriere erzeugen können. Um mehr zu erfahren über diesen Teil der Besiedelung Rehburgs, werden jedoch noch weitere wissenschaftliche Methoden angewandt. Dendrochronologie komme zum Einsatz, sagt Berthold, eine Methode, mit der anhand der Jahresringe der Bäumstämme bestimmt werden könne, wann sie gefällt wurden – oftmals jahrgenau. Einige Probeuntersuchungen hat er schon vornehmen lassen und sie lassen ihn hoffen, dass die Ortsgeschichte neu geschrieben werden kann. Bei einer dieser Proben sind sich die Dendrochronologen nämlich sicher, dass der letzte erhaltene Jahresring des Baumes aus dem Jahr 1408 stammt. Das wiederum ist nicht weit entfernt von der ersten schriftlichen Erwähnung Rehburgs, die von 1331 stammt. Damals gab es Streitigkeiten um den Grund und Boden dort zwischen den Herzögen Otto und Wilhelm von Braunschweig-Lüneburg und dem Kloster Loccum, die damit endeten, dass das Kloster das Land verkaufte, auf dem nun Rehburg steht. Ortsgeschichte könne neu geschrieben werden, wenn manche der Balken älter seien als jene Urkunde, meint Berthold. Und dafür werden die alten Funde nun – kaum sind sie frei gelegt – in Scheiben geschnitten. Mit Unterstützung vom städtischen Bauhof lassen die Archäologen aussagekräftige Scheiben von den Pfählen absägen. Deren Alter wird anschließend in einem Berliner Institut bestimmt. Abgeglichen mit den Kartierungen von der Grabungsstelle, wird sich ein Bild von Bauten ergeben, die über Jahrhunderte neben der Reheburgk gestanden haben. Aufschlüsse über Nutzungen kann das geben. Und Rückschlüsse auf frühere Besiedelungen im Spätmittelalter, mit denen sich die Ortsgeschichte womöglich nach vorne datieren lässt. Wenn diese Ergebnisse feststehen, wird aber vermutlich von den Funden auf der Grabungsstelle schon nichts mehr zu sehen sein. Bis Weihnachten haben die Archäologen maximal Zeit, um nach Spuren der Vergangenheit zu suchen. Danach rücken die Baumaschinen an. Foto: jan