RODENBERG (al). Vor genau 110 Jahren hat der Dichter und Journalist Julius Rodenberg seiner kleinen Geburtsstadt ein literarisches Denkmal gesetzt. "Aus der Kindheit" nannte er seine "Erinnerungsblätter", deren erstes Exemplar er der Dichterin Marie von Ebner-Eschenbach widmete. 1907 erschien der Text in gedruckter Form. Heute würde kaum jemand das Original zur Hand nehmen: Der spätromantische Schreibstil erschwert das Lesen ebenso wie die damals noch übliche Frakturschrift.
Aber jetzt gibt es eine ganz moderne Fassung jener Beschreibungen, die den Rodenberger Alltag um die Jahre vor 1850 anschaulich schildern. Rudolf Zerries setzt in dem von ihm gegründeten "Rodenberg Verlag" sein Bemühen fort, zumindest einige Werke des Autors neu in das Bewusstsein einer interessierten Leserschaft zu bringen. Einen ersten Erfolg verzeichnete er mit dem vor einigen Monaten erschienenen Sammelband "Klostermanns Grundstück". "Aus der Kindheit" hatte zuletzt 1979 Aufmerksamkeit erlangt, als die "Martini-Loge" der Deisterstadt einen Nachdruck in limitierter Auflage besorgte. Zerries aber wollte jetzt mehr. Neben moderner Schrift und vorsichtigen Veränderungen von Rechtschreibung und Interpunktion des Originals fügte er Kommentierungen hinzu, die die zum Teil nur vage angedeuteten Orte, Personen und Ereignisse entschlüsseln. Wesentliche Unterstützung leisteten Marlies Berndt-Büschen, Hubert Finger, Fritz Hecht, Hartmut Sassmann, Helmut Stille und der erst kürzlich verstorbene Karl-Heinrich Wulf im örtlichen Geschichtsarbeitskreis. So erklären sich Vorder- und Hinterstraße als Lange Straße und Echternstraße, das großelterliche Haus eindeutig als heutige Eisdiele und der auf einer Kutsche "in Decken gehüllte Herr" als den kurhessischen Diplomaten Karl Edmund Friedrich von Münchhausen. Was Rodenbergs Erinnerungen besonders interessant macht: Sie stammen aus der Zeit vor dem großen Brand 1859, der weite Teile von Rodenbergs Zentrum vernichtete. Deshalb ist auch die Karte von 1871 zum besseren Verständnis wichtig, mit der Zerries die mehr als 230 Seiten als Anhang ergänzte. Noch mehr aus dem Inhalt wollen Verleger und die Mitglieder des Geschichtskreises am morgigen Donnerstag, 9. Juni, ab 18 Uhr in der "Deisterbuchhandlung" am Amtsplatz verraten, wenn sie "Aus der Kindheit" vorstellen. Eine literarischen Leckerbissen gibt es obendrein: Zu Rodenbergs 70. Geburtstag am 26. Juni 1901 war eine nie in den Handel gelangte Festschrift mit Beiträgen von Wegbegleitern und Verwandten erschienen. Auch diese lässt Zerries verbreiten, um dem berühmtesten Sohn der Stadt neue Aufmerksamkeit zu besorgen. Foto: al