Detmold (vfc). Wo viele Künstler den Pinsel zücken, greift Georgia Russell zum Skalpell. Schnitt für Schnitt seziert sie alte Bücher, Fotografien oder eingefärbte Großleinwände und transformiert sie zu fantastischen, filigranen Kunstobjekten. Es sei wie malen, nur eben mit dem Skalpell, meint die gebürtige Schottin. Was nach operativem Eingriff, nach Zerschneiden, Zerstören oder Zerstückeln klingt, ist ein hochästhetischer Akt, an dessen Ende eine aus altem Material neu entstandene skulpturale Papierarbeit steht. Voller Poesie, Schönheit und einer Doppelbödigkeit, die die papiernen Skulpturen von einem bloßen Designobjektcharakter loslösen. Ausgewählte Papierarbeiten von Georgia Russell zeigt die Lippische Gesellschaft für Kunst (LGfK) in der derzeitigen Ausstellung. Zwei wild wuchernde Gewächsstauden in verschiedenen Grünschattierungen schweben in der ehemaligen Küche des Schlosses. Was auf den ersten Blick wie eine üppig wachsende Hängepflanze aus grünen, breiten Bändern scheint, zeigt bei näherem Betrachten seine wahre Materialität: Es sind einzelne Buchseitenstreifen. Einzelne Worte oder verkürzte Wortteile blitzen unter dem eingefärbten Papier hervor. Wissen und Information gebündelt und dennoch zerfasert, aufgeteilt in separierte Teilstränge. Der ehemalige Buchrücken hält die einzelnen Stränge zusammen und bildet das Rückgrat der austreibenden Gewächsskulptur. Forest Guardians (Waldwächter) betitelt die Künstlerin ihr Papiergewächs. Eigens für die Ausstellung in Detmold fertigte sie die Papierskulptur an, inspiriert von der vielfältig grünen Natur, der Wälder der Lippischen Landschaft. Eine Art Totem, ein ästhetisch-mystisches Abbild der Lippischen Wälder entstand. Filigran, zart, grazil, wie die Künstlerin selbst, und voller Assoziationsfläche: sind es nun Gewächse oder vielleicht gar zwei Flügel eines Waldwächters? Der Buchinhalt gibt darüber keine Auskunft. Er referiert nicht auf die Form. Vielmehr ginge es ihr, so erläutert Georgia Russell, um das Symbol des Buches an sich: als Medium des eingeschriebenen Weltwissens oder einer Geschichte. Mit dem Skalpell dringt sie tief in die Geschichte der Bücher ein und legt durch das Sezieren neue Assoziationen und Geschichten frei. Die bibliophilen Papierskulpturen erhalten darüber einen doppelten Bezug: es sind abstrakte Kunstobjekte und zugleich Geschichts- bzw. Informationsspeicher. Auch historische Fotos kommen unter ihr Skalpell und offenbaren ihre Doppelreferenz. Grundlage kann Georgia Russell, die in Paris lebt und arbeitet, dabei ein historisches Foto des Donoper Teiches sein. Das Foto wurde mittels Scanner digitalisiert, vervielfältigt und großformatig ausgedruckt. In ihrem Plexiglaskasten wirken die zweifach hintereinander montierten Fotoschnitte wie ein dreidimensionaler Scherenschnitt der Natur oder eine mit dem Pinsel erstellte Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts. Fasziniert von der edlen Typographie der alten Buchausgaben des zweitgrößten französischen Verlages Gallimard begann Georgia Russell während eines Studienaufenthaltes in Paris die Buchdeckel zunächst mit Skizzen zu versehen. Erinnerungen an ihre Zeit in Paris für die Freunde in der Heimat. Die historischen, dabei gebrauchten Bücher erstand sie bei den Bouquinisten am Pariser Seine-Ufer. Was zunächst als Skizzenpapier für Reiseeindrücke diente, entwickelte sich alsbald zu einem unversiegbaren Inspirationsquell für die Künstlerin. Sie setzte das Skalpell an und erste Schnitte entstanden. Mittlerweile sind ihre Arbeiten hochgeschätzt und in Ausstellungen im Pariser Centre Pompidou ebenso vertreten wie im Victoria and Albert Museum London oder im Museum of Art and Design in New York. Es gibt Stimmen, die Kritik am Sezieren von Büchern äußern. Es mag an dem zerstörerischen Umgang mit Büchern in der europäischen, insbesondere der deutschen Vergangenheit liegen. Bilder von malträtierten Büchern, von brennenden Bücherbergen und geschändetem Wissen, sind unauslöschlich. Georgia Russell aber zerstört nicht, sie modifiziert. Sie führt den ausgemusterten Büchern, die sie auf Flohmärkten und in Antiquitätenläden findet, einen neuen ästhetisch-künstlerischen Sinnzusammenhang. Die alten Wissensspeicher bekommen eine neue Aufgabe zugeteilt und werden zum ästhetischen Konzept erhoben. Dafür ändern die Bücher oder Fotografien ihre Form. Weiterhin tragen sie aber ihr Wissen und ihre Geschichte in sich, so dass sie nichts von ihrem ursprünglichen Dasein verlieren. Was in Zeiten von E-Book und E-Mail oder digitalem Foto verloren geht, erhält eine Bewahrung im ästhetisierten Kunstobjekt. Als nächstes Projekt, so verriet die Künstlerin, wolle sie gerne eine alte Ausgabe von Tolstois "Krieg und Frieden" unter das Messer legen. Die Ausstellung "Georgia Russell – Zeichnungen.Schnitte.Objekte" der Lippischen Gesellschaft für Kunst im Detmolder Schloss läuft bis zum 26. Juli täglich außer montags von 10 bis 12 Uhr und von 14 bis 17 Uhr. Der Eintritt ist frei. Ein Katalog zur Ausstellung ist vor Ort erhältlich.
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Die Kunst, mit dem Skalpell zu malen
Papierarbeiten von Georgia Russell im Schloss Detmold
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