1. Untergang im Sog des Bösen

    Premiere der Oper "Hamlet" am Bielefelder Stadttheater

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    Bielefeld (ame). Die Oper "Hamlet" vom Ambroise Thomas wird selten aufgeführt. Inhaltlich ist sie vom Text her gegenüber Shakespeares Werk ein wenig reduziert, was aber – auch wenn man manches Shakespeare-Zitat vermisst – letztlich nicht schadet, da die Musik die Worte trägt, bekräftigt, untermalt und jede Emotion so wunderbar verdeutlicht, dass man sicher durch die Handlung geleitet wird. Am vergangenen Samstagabend feierte "Hamlet" am Stadttheater Bielefeld Premiere. Drei Stunden dauerte die Aufführung, doch die Zeit verging wie im Fluge, denn es gab an keiner Stelle Längen. Stattdessen baute sich die Spannung mehr und mehr auf, bis die Handlung ein befreiendes Ende fand: Der Schluss war überraschend, aber stimmig.

    Gleich zu Beginn sorgte das Bühnenbild für die passende Assoziation: Ein überdimensionales Familienfoto erinnerte kurz an amerikanische TV-Familiensagas, bevor es in den Hintergrund geschoben wurde und die abgebildeten Personen in Aktion traten. Man wusste also sofort: Hier geht es um Macht, Psyche und die damit verbundenen Probleme. Wenn es nun schon um Psyche geht, dann kann man auch einen Psychologen hinzuziehen, war der Gedanke, den Regisseurin Andrea Schwalbach konsequent umsetzte, indem sie Hamlet und seine Braut Ophélie, sowie im Verlauf des Abends sämtliche mit Kummer oder Sünde Beladenen, auf die Couch setzte. Yoshiaki Kimura gab den Psychologen, der als solcher, wie das wohl meistens der Fall ist, auf die Rolle des passiven Zuhörers beschränkt war. Erst als Hamlet seine Mutter im Würgegriff fast umbrachte, sprang er auf und griff ein, wobei sein Stuhl geräuschvoll in die Ecke flog. Nur zuzuhören, reicht eben manchmal nicht aus. Sich auszusprechen aber leider auch nicht. Die Hilflosigkeit des Psychologen ist eine grundsätzliche und nicht etwa auf seine Person beschränkt. Wie nimmt ein Unglück seinen Lauf? Wen zieht es alles hinein in ein Fahrwasser, das sich immer mehr zu einem Strudel formt, in dem Gutes und Schönes untergehen müssen? Wie wendet eine einzige böse Tat das Leben vieler? Und warum lässt sich dieser Prozess nicht stoppen?

    Ophélie leidet unter einer Borderlinestörung, Hamlets Mutter hat schon vor Verzweiflung versucht, sich das Leben zu nehmen. Die seelischen Wunden macht Andrea Schwalbach sichtbar. Hamlet erschrickt, als er die Wunden der Mutter gewahr wird. Sie ist eben auch nur ein Mensch. Mit dieser Erkenntnis wird es schwierig, sie nun vollkommen zu verdammen. Diese Szene, in der Melanie Kreuter als Hamlets Mutter Gertrude und Evgueniy Alexiev als Hamlet agieren und in der Hamlet seiner Mutter ihre Verblendung vorwirft, ist vielleicht die stärkste Szene des Abends. Einerseits verdichtete sich hier die Problematik der Schuld, andererseits wurden alle damit verbundenen Emotionen aufgefächert bis ins Detail. Unwillkürlich fasste man sich dabei an den Hals und hatte Mühe zu atmen, weil sich vor unseren Augen der Abgrund öffnete.

    Hamlet will seinen Stiefvater (Roman Astakhov) demaskieren, indem er ihm ein Theaterstück vorsetzt, das sein eigenes Verbrechen – den Brudermord an Hamlets Vater – spiegeln soll. Die Theaterszene im Theater schöpfte dabei nun aus dem Vollen: Es "sommernachtträumelte" plötzlich von einem Moment auf den anderen. Der Enterich beschnäbelte die Ente in der Luft, es regte sich verschiedenes im Schilf und was zwei oder mehr Beine hatte, schwebte, hüpfte, kreuchte und fleuchte durch selbiges hindurch wie Otto Waalkes auf Ecstasy. Der aufgehende Mond war kitschigschön blausilbern, Elfen flatterten hektisch umher und eine Ente schwamm mir all ihren Jungen an der Szene vorüber. All das unter einem Multicolorglimmerglitzerregen aus metallisch flimmerndem Konfetti.

    Vorbei war‘s: Ungehemmtes Gekicher löste für einen Moment aufs Angenehmste die Spannung. Ja, nein, also – sooo hatten wir das doch auch gar nicht gewollt. Auch nicht heimlich. Bewahre! Obwohl ... So schön kann das eben nur Theater. Weil wir das alle wissen, schwingt immer ein Hauch von Erwartung mit, wenn sich der Vorhang hebt. Einen herrlichen Moment lang wurden nun also unsere wildesten Theaterträume von der Kulisse (Bühne: Nanette Zimmermann, Kostüme: Petra Wilke) optisch komplett überzeichnet. Hinreißend komisch! Chapeau!

    Zwischendurch Luft holen war möglich. Aber nicht lange. Cornelie Isenbürger sang die Wahnsinnsszene der Ophélie und Hamlet, eigentlich nur in ihren Gedanken "anwesend", war auf der Bühne in Interaktion. So war es oft: Die Figuren veränderten ihre Rollen, waren mal Traumgestalten, mal Akteure. Das hätte verwirren können, aber das Gegenteil war der Fall. Es unterstrich. Elisa Gogou dirigierte ein fantastisches Orchester und der Chor bekam aus gutem Grund hernach besonders viel Applaus. Die Musik verführte oft dazu, die Augen zu schließen und einfach nur noch zu hören – so wunderbar war der Klang. Die Stimmen Cornelie Isenbürgers und Evgueniy Alexievs verschmolzen miteinander in perfekter Harmonie. Der Abend war ein musikalischer Hochgenuss. Kein Schritt, keine Mimik und Geste, keine einzige Bewegung der Akteure war dem Zufall überlassen. Alles war bis ins Letzte durchdacht. Das schauspielerische Element war großartig und hier sind besonders Melanie Kreuter und Evgueniy Alexiev hervorzuheben – allerdings gab ihnen die Handlung dazu auch am meisten Gelegenheit. Es ging um ein Psychogramm, das aufzeigte, wie Verletzungen wirken, wenn sie nicht geheilt werden. Sie wirken zerstörerisch. Dass Hamlet am Schluss seiner Mutter den Dolch in die Hand gab und sich dann damit tötete, steht so nicht geschrieben. Aber letztlich war es so. Es zu zeigen, war also nur konsequent. Fazit: Es war von A bis Z ein fantastischer Abend. Eine Inszenierung, die man sich ohne weiteres sofort ein zweites Mal ansehen möchte. Hineingehen oder nicht hineingehen, ist hier also keine Frage.

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