Detmold (vf). Aufmerksamkeit, Anerkennung und (Hoch-)Achtung für Günter Grass. Der Literaturnobelpreisträger folgte der Einladung des Literaturbüros OWL und las, vormittags im Landestheater, abends im Konzerthaus Detmold, vor ausverkauften Häusern aus seinem (vorerst?) letzten Werk "Grimms Wörter".
Mit mittlerweile über 80 Jahren könnte es sein letztes Buch sein und beinhaltet wohl gerade deswegen sein autobiographisches, aber auch ein literarisches Vermächtnis. Widmete Günter Grass dem aufsehenerregenden ersten Teil, "Beim Häuten der Zwiebel" (2006), seine Jungendjahre, seine Kriegs- und Nachkriegserfahrungen bis in das Jahr 1959 als er mit "Der Blechtrommel" seinen großen Welterfolg begründet, folgt im zweiten Teil mit "Die Box" (2008) eine märchenhaft verschlüsselte Hommage an die eigene Familie. 2012 erschien nun mit "Grimms Wörter" der letzte Teil des Zyklus’. Er ist Autobiographie, Historienbuch und Liebeserklärung zugleich. Vergangenheit und Gegenwart, gepaart mit einiger Fabulierkunst, werden hierin verknüpft und Grass erzählt mit diesem, ihm bewährten Stil die Entstehung des deutschen Wörterbuches der Gebrüder Grimm und Episoden aus seinem eigenen Leben.
A – Anfang, Andenken, Auftakt
Dass Günter Grass gerade dieses Brüderpaar als Spiegelung für seine eigenen biographischen Berichte heranzieht, ist so abwegig nicht. Ihre Märchensammlung machte Wilhelm und Jacob Grimm berühmt; dass Günter Grass einen Hang zum Märchenhaften besitzt, weiß der Leser seiner Romane nicht erst seit den Erzählungen über die Kartoffelacker bei Danzig ("Die Blechtrommel") oder den Fischer und seiner Frau ("Der Butt"). So wenig Günter Grass Märchenerzähler, waren Jacob und Wilhelm Grimm Märchensammler. Sie waren vorwiegend Wortsuchende und einflussreiche Sprachwissenschaftler. Ihr nicht zum Abschluss gebrachtes Großprojekt eines "Deutschen Wörterbuches" ist eines der umfangreichsten und langwierigsten Werke, das je auf diesem Metier unternommen wurde. Was 1838 von den Brüdern begonnen, währte über ihrer beider Tod hinaus, und wurde erst 1961 mit insgesamt 32 Bänden fertiggestellt. Dabei ist das Grimm’sche Wörterbuch kein solches im herkömmlichen Sinn. Es ist was die Linguisten ein "Belegwörterbuch" nennen: Eine auf Vollständigkeit hin angelegte Sammlung, die Herkunft und Gebrauch jedes deutschen Wortes verzeichnet.
F – Finesse, Frucht, Fundgrube
Den beiden Brüdern, die sich, wie der Autor selbst, ganz dem Wort verschrieben haben, setzt Günter Grass ein literarisches Andenken. Grass’ "Wörter" ist dabei aber keine Biographie der beiden Wortsammler. Wie das Grimm’sche Wörterbuch ein Denkmal der deutschen Sprache, ist Grass’ Buch eher das, was der Untertitel mitteilt: eine umfassende Liebeserklärung an sie. Die Lebensgeschichte der Brüder Grimm dient Grass als dramaturgisches Vehikel. Wie ein Lexikon angelegt, berichten die Kapitel alphabetisch nach Buchstaben von "A" bis "Z" mit einigen Auslassungen sortiert, wie die beiden Professoren der Göttinger Universität des Landes verwiesen werden, in Kassel Asyl finden und wie die Vollendung ihres Wörterbuches eher langsam voranschreitet. Als Wilhelm Grimm 1859 einem Schlaganfall erliegt, ist die Wortsammlung erst bis "Durst" gediehen. Jacob setzt alleine die Realisierung des umfangreichen Projektes fort. Bis zu seinem eigenen Tod 1863 ist das Wörterbuch allerdings nur bis "F" wie "Frucht" fertig. Das ist der eine Erzählstrang. Der zweite speist sich aus eingestreuten Verweisen auf Grass’ eigenes Leben, Anekdoten, Erinnerungen, Auseinandersetzungen. Als drittes Element im erzählerischen Bunde steht das Wort an sich. Anhand der jeweiligen Kapitel-Buchstaben-Überschriften spickt Grass seine Text mit allerlei kunstvollen Wortspielen, Alliterationsansammlungen zum jeweiligen Buchstaben. Er entdeckt dabei Wörter, die in der Sammlung der Brüder Grimm fehlen. Es ist eine Fundgrube deutscher Wörter.
Z – Zeit, Zenit, Ziel
"Die Welt über die Sprache entdecken", wie zu Beginn der Lesung die Künstlerische Leiterin des Literaturbüros OWL, Dr. Brigitte Labs-Ehlert, ausführte, erhebt Grass zur Maxime. Indem er die Sprache, das einzelne Wort achtet, beobachtet er darüber die Welt. Nicht nur die Welt der Gebrüder Grimm, sondern auch seine eigene. Ohne Umschweife und sicherlich zu recht setzt er damit seinem eigenen Leben ein Denkmal. Grass gehörte nie zu den stillen Vertretern seiner Zunft. Er nahm Stellung, bekannte in seinen Werken politisch und autobiographisch Farbe, war dabei nimmermüde auch gesellschaftspolitisch Einfluss zu nehmen. Wenn es nötig war, sagte er das, "was gesagt werden musste". Kürzlich noch ein Kommentar zur deutschen Asylpolitik. Nicht nur hierbei nahm er es in Kauf, dass ihm einiger Gegenwind entgegenschlug.
Viel gibt es über 80 Jahre Lebenszeit zu berichten. Kurz fällt jedoch vergleichsweise die noch verbleibende Zeitspanne nach 80 Jahren aus. "Es drängt sich mir der Tod auf," schreibt Günter Grass, "nach ihm wird nichts sein." So trifft er "Vorkehrungen, zieht Bilanz, räumt auf". Bewegend, wenn über die Rede Jacob Grimms über das Alter erinnert wird und Grass über sein eigenes Alter und Tod reflektiert. Berührend, wenn man diese Worte mit des Autors eigener Stimme vernimmt. Bei der Lesung zog vor diesem Hintergrund das vom Autor selbst gelesene Wort den Zuhörer in seinen Bann. In einem Wörterbuch mag das Wort "Alter" und der damit verbundenen "Tod" nur ein Wort von vielen sein. Für den Literaten wird das geschriebene Wort nun zu einem erfahrbaren – von "A" wie "Anfang" bis "Z" wie "Ziel". Für den Zuhörer bekommt die sonst gelesene und anonymisierte Worthülse einen direkten, persönlichen Bezug. Und die Welt des geschriebenen Wortes wird damit ganz real.