Detmold (kh). Na, sieh mal einer an ... Das allzu häufig blasiert als Quetschkommode beäugte Akkordeon wird zum Shooting Star des jüngsten Meisterkonzerts der Hochschule für Musik. Denn ja, es gibt sie tatsächlich: "Klassische" Akkordeonspieler. Janne Rättyä ist so einer. Einer, der sich mit seinem Akkordeon jenseits von Musikantenstadl und Co. der Rubrik "E-Musik" widmet und sich dem prallen musikalischen Reichtum jener eigentümlichen Wunderkiste verschrieben hat, das es fernab der Volksmusik zu entdecken gibt.
Als Füllhorn stilistischer Formen und klanglicher Möglichkeiten präsentiert Janne Rättyä sein Instrument. Und das auf derart hohem Niveau, dass der Hörer alles vergisst, was er möglicherweise jemals über Akkordeon-Musik gehört hat. Für sein Detmolder Gastspiel hatte der Meister brillanter Akkordeonkunst Werke der Barockzeit zeitgenössischen Kompositionen zur Seite gestellt:
Ungeahnt frisch etwa klingen Domenico Scarlattis (1685–1757) Sonaten. Hörbar mit Lust widmet sich der Solist diesen Kleinodien und zaubert faszinierende Klanggemälde. Diffizil lotet er Haupt- und Nebenstimmen aus. Vorgetragen im Wechsel mit Sätzen aus Terry Rileys (*1935) "Manadala Miniatures Suite" lässt er das Auditorium in einem schöpferischen Prozess der Verwandlung ganz neue Seiten an Scarlattis Musik finden.
Überhaupt scheinen Janne Rättyä und sein Knopfakkordeon vor allem in der Neuen Musik so richtig in ihrem Element zu sein. Mit Werken von Kalevi Aho (*1949), Terry Riley und Magnus Lindberg (*1958) blättert der Finne entdeckerfreudig und mit staunenswertem Können die Seiten der musikalischen Moderne auf und hält ein ebenso verblüffendes wie virtuoses Plädoyer für neue Hörerlebnisse. Zugegeben – dem Konzertbesucher erschließen sich diese dem Akkordeon auf den Leib geschriebenen Werke oft schwer. Ist doch die avantgardistische Literatur, die aus dem "Armeleuteinstrument" einen ernstzunehmenden Charakter im Konzertsaal macht, nicht im konventionelle Sinne hörfreundlich. Aber ist er bereit, die entsprechende Neugier mitzubringen, kann sich der Hörer dank Rättyäs Könnerschaft, die Farben und Gesten der "Musica-nova-Kompositionen" zu realisieren, den ungewohnten Klangzaubereinen zumindest annähern. Und noch besser gelang das, wenn man die Möglichkeit genutzt hatte, sich mittels der aufschlussreichen verbalen "Ohrenöffner" von Christa Sehring (Studierende Masterstudiengang Musikvermittlung) im Vorfeld des Konzertabends mit den Werken auseinanderzusetzen.
Ein Kaleidoskop an Geräuschen und Tönen, an Leere und dichten Klängen, von Bedachtsamem und Emotionalem wird unter Janne Rättyäs Händen zu Musik. Kosmen von Ausdrücken sind in verschwenderischer Fülle präsent. Seufzen, Klagen, feines Singen, expressive Haltetöne, dumpf dräuendes Wabern, pfeifende Schrille, Pochen und Klopfen – komplettiert mit intensivem Mienenspiel. In einem fein gesponnenen Gewebe aus Klängen und Pulsen lässt Janne Rättyä seine Finger behutsam über die Knöpfe des Akkordeons gleiten und es entstehen Luftströme an der Grenze des Hörbaren. Es ist als verschmelze er mit dem Akkordeon, während es eigentümlichste Klänge gebiert und zu einem Instrument wird, das menschliche Stimmungen jenseits jedes Schifferklaviergestus’ in Musik zu übersetzen scheint.
Paradox: Mechanik nimmt "menschliche" Züge an. Das Akkordeon als ein Lebewesen zwischen Mensch und Maschine – es scheint existieren zu können, wird der faltige Balg gleichsam als Verlängerung der eigenen Lunge nur mit der nötigen Achtsamkeit geführt. Und als das Akkordeon nach gut anderthalb Stunden Balgerei seinen letzten Schnaufer getan hatte, gab es viel Applaus für einen Abend mit hellhörigen wie auch heiteren, selbstvergessenen und anstrengenden Klangeindrücken im schwebenden Gleichmaß zwischen Aus- und Einatmen.