1. "In Auschwitz stirbt man, hier lebt man wie Könige"

    Israelischer Historiker Gideon Greif referiert über Kontrastwelten in Auschwitz / Führer nie in einem Vernichtungslager

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    BAD NENNDORF (jl). Geschichtsunterricht mal anders – Am Dienstagmittag haben Bad Nenndorfer Gymnasiasten für zwei Schulstunden den Klassenraum gegen die Aula und ihren Lehrer gegen den israelischen Historiker Gideon Greif getauscht.

    In einem lebhaften Dialog mit ihm erfuhren sie, wie die Lebenswelten der Opfer und Täter im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau aussahen. Den Elft- und Zwölftklässlern präsentierte der renommierte Erforscher des Holocaust zahlreiche Aufnahmen aus dem "Auschwitz-Album", das zwei thematisch unterschiedliche Alben zusammenfasst.

    Das erste Fotoalbum zeigt aus Sicht von Angehörigen der Schutzstaffel (SS) wie jüdische Opfer des nationalsozialistischen Regimes im Mai 1944 ihre letzten Stunden im Vernichtungslager Auschwitz erlebten – das erste und einzige Mal fotografisch festgehalten, wie Greif betonte. Ein Bild veranschaulichte etwa die Ankunft der aus Ungarn stammenden Juden in einfachen Viehwaggons ohne Toiletten und ohne Lebensmittel. "80 bis 85 Prozent der Gesichter, die wir hier sehen, werden da nur noch vier Stunden leben", erinnerte Greif. Andere Aufnahmen bilden die Ankömmlinge ab, wie ihre Familien getrennt werden, wie sie der SS-Arzt selektiert oder wie sie nichtsahnend warten – "ein Propagandaprodukt, das der Welt beweisen sollte, dass Auschwitz ein Ort ist, an dem nichts Schlimmes passiert", so Greif.

    Warum es keinen Aufstand gegeben habe, obwohl den Hunderten von Menschen auf der Verladerampe nur eine Handvoll Soldaten gegenüberstanden, wollte einer der Gymnasiasten wissen. "Sie hatten keine Möglichkeiten, keine Kräfte und auch keine Waffen. Sie waren Zivilisten und keine erfahrenen Soldaten", erklärte Greif. Außerdem seien die Menschen gerade erst angekommen und hätten nicht einmal gewusst, dass sie gleich sterben würden. "Was hat man denn den Menschen gesagt, wo man sie hinbringt?", hakte eine Schülerin nach. "Man hat überhaupt nicht viel gesagt", erklärte der israelische Historiker. Nur "Ihr werdet nach Osten fahren".

    Auf eine weitere Frage aus dem Publikum nach dem Verbleib des beschlagnahmten Hab und Guts der Juden antwortete Greif, dass die Korruption riesig gewesen sei. Nur rund die Hälfte der Ware sei verkauft oder verschenkt worden. Der Rest wanderte in die privaten Taschen. "Hier konnte man in fünf Minuten Millionär werden", so der Geschichtsforscher.

    Denn das Pendant zu den Demütigungen, Beraubungen und Ermordungen der Opfer war das gut bezahlte und luxuriöse Leben der Täter, wie Greif anhand des zweiten Fotoalbums von Karl-Friedrich Höcker, Adjutant des letzten Auschwitz-Kommandeurs, verdeutlichte. Die SS-Soldaten und das Lagerpersonal genossen ihre Freizeit in der rund 30 Kilometer entfernten Solahütte – in "Vollvergnügen und Fresserei", so der Historiker. "In Auschwitz stirbt man, hier lebt man wie Könige."

    Kurz bevor die sechste Stunde endete, wollte noch eine Schülerin wissen, ob Adolf Hitler mal in Auschwitz gewesen sei. "Es ist wirklich kaum zu glauben, aber der Führer war nie in einem der deutschen Vernichtungslager, die seit 1933 existierten", entgegnete Greif zum Erstaunen der Gymnasiasten. Foto: jl

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