Detmold (vf). Die historisch-informierte Aufführungspraxis oder auch die sogenannte Alte Musik ist aus dem klassischen Musikleben nicht mehr wegzudenken. Was vor mittlerweile knapp 100 Jahren mit der Wiederentdeckung der Opern Händels begann, ist heute ein selbstverständlicher Bereich des Klassikgeschäfts geworden. Die Absicht dahinter: Musik der Renaissance über die des Barock bis hin zur Klassik und frühen Romantik auf authentischem Instrumentarium zu interpretieren. In Detmold gründeten 2003 die Geigenprofessorin Ulrike-Anima Mathé und Prof. Gerhard Weinberger die sogenannte Barockakademie. Hier haben Studierende die Möglichkeit, den Horizont der musikalischen Interpretation über die üblicherweise an der Hochschule gelehrte klassisch-romantische Spieltechnik zu erweitern.
Mittlerweile kann die Barockakademie auf eine knapp zehnjährige Wirkungszeit zurückblicken. Eine in Detmold ausgebildete Generation junger Künstler hat sich bereits in der Alten-Musik-Szene etabliert. Allen voran der 29-jährige Countertenor Benno Schachtner. Nun stand er mit den jungen Barockakademisten auch als Dirigent und Cembalist auf der Bühne des Konzerthauses. Ihm zur Seite die Barockgeigerin Liv Heym und eine grundsolide Basso-Continuo-Gruppe aus dem Lautenisten Axel Wolf und dem Cellisten Dmitri Dichtiar. Alle vier Spezialisten ihres Fachs.
Die Alte Musik ist im hiesigen Konzertbetrieb bedauerlicherweise immer noch viel zu gering vertreten. Eine Freude und Gewinn, dass ein solches Angebot an der Hochschule existiert. Vergangenen Mittwoch konnten die Zuhörer dieser seltenen Konzertereignisse nun nicht nur die wohl noch frischen Ausflüge Schachtners ins Dirigentendasein und ans Cembalo erleben, sondern auch in den hochgradigen Genuss seines wohltemperierten Countertenors kommen. Mit gestochen scharfen Koloraturketten ließ Schachtner seine Sopranstimme durch die Auftrittsarie des Giulio Cesare aus Händels wohl heutzutage bekanntester gleichnamiger Oper perlen.
Ganz der Manier historischer Orchestervorbilder verpflichtet, wechselte Schachtner von der zuvor eingenommenen Position des Dirigenten, in die des Solisten. Seine Kollegin auf dem Konzertmeisterinnenposten, Liv Heym, leitete den dabei hochaufmerksamen und musikalisch sensibel agierenden Orchesterapparat. In der darauffolgende Arie aus Händels Meisterwerk "Saul" entfaltete Schachtner seine stimmliche Kantabilität, seine Fähigkeit, das volle Gefühl in seine Stimme zu legen. Das aber zugleich bei zurückhaltender Manieriertheit oder gar Effekthascherei. Ihm gelang eine subtile, dabei aber präzise Charakterisierung des Affektes.
Trotz aller Bemühungen der Barockakademie um die historische Aufführungspraxis, spielten die Akademisten nicht auf Originalinstrumenten. Möglicherweise aus Kostengründen; nicht jede Hochschule kann seinen Studierenden hauseigene Barockinstrumente zur Verfügung stellen. Es gab moderne Querflöten, keine hölzerne Traversflöten; lediglich ein Barockbogen für die modernen Streichinstrumente wurde herangezogen. Die konzerthauseigene Tonanlage manipulierte die Akustik zu einer nachhallreicheren Kirchenraumakustik: Für die Puristen innerhalb der Alte-Musik-Szene dürfte dies einem Fauxpas gleichkommen.
Einbußen, die dem Klangideal letztlich allerdings keinen größeren Abbruch taten. Das Hauptaugenmerk lag auf der barocken Spieltechnik und Stilistik. Ein spannendes, aber auch anspruchsvolles Unterfangen – das blitzte immer wieder hörbar auf. Bei den Doppelpunktierungen im Allegro-Teil der Ouvertüre zur Oper "Giulio Cesare" gab es in den hohen Streichern einige Unstimmigkeiten. Der geradlinigen, dabei allerdings nicht vibratolosen Tongebung waren einige der jungen Akademisten in der Intonation nicht ganz gewachsen. Und Corellis Concerto grosso op. 6, Nr. 1 wäre mit mehr Spielfreude und Intensität zu einem noch größeren Fest barocker Virtuosität gelangt. Herausragend der Chor der Barockakademie mit Bachs Motette "Jesu meine Freude". Dabei legte Schachtner, der Sänger, Wert auf eine exakte Aussprache; Schachtner, der Dirigent, auf nuancierteste Abstufungen in der Dynamik und auf kleinste Phrasierungen.
Im zweiten Konzertteil zeigten die vier Profis mit der Sopranistin Carine Tinney im Quintett wie jene Spiel- und Interpretationstechnik der Alten Musik zu perfektionieren ist. Dabei offenbarte sich, wie filigran und facettenreich die Beschäftigung mit der Barockinterpretation ist – eine langwierige Auseinandersetzung mit der Materie. Es sei daher unbedingt angemerkt, dass es sich bei der Barockakademie um ein Ausbildungsprogramm der Hochschule handelt, das eine Begegnung zwischen bereits ausgebildeten und auszubildenden Künstlern ermöglicht. Der Fokus liegt auf dem an diesem Konzertabend so intensiv geführten Dialog über historische Aufführungspraxis. Weniger auf der noch nicht erreichten Perfektion, vielmehr auf der Tatsache, dass hier eine hocherfreuliche musikalische Zusammenkunft gelungen ist. Eine Zusammenkunft, die auch im auffallend ausgedehnten Programmheft mit einem informativen Einstiegsbeitrag über historische Aufführungspraxis Niederschlag fand.
Alte Musik ist eben mehr als nur Musik. Sie ist Spezialgebiet. So sind die durch die historisch-informierte Aufführungspraxis produzierten Klänge für einige Zuhörer weiterhin speziell. Vielleicht eine Erklärung für das, trotz des Aufgebotes an künstlerischer Größe, an diesem Abend nicht ausverkaufte Konzerthaus. Wer sich allerdings einließ, der wurde um eine Konzerterfahrung reicher. Den verführte die Barockakademie unter Benno Schachtner dazu, seine Hörgewohnheiten zu erweitern: Ein vom musikinterpretatorischen Mainstream losgelöstes Klang- und Stilideal. Ein Willkommen in den Freuden der Barockmusik.