Detmold (pgk). "Würde es einen Finanzbeamten reizen, nach seinem täglichen Dienstgeschäft regelmäßig noch weitere Einkommensteuererklärungen zu bearbeiten?" Mit dieser provokanten Hintergrundfrage richtete Hans-Hermann Jansen, Gesangspädagoge und Kuratoriumsmitglied der Philharmonischen Gesellschaft OWL als Veranstalter dieses Kammerkonzertes, in seinen kommentierenden Worten den Fokus auf die vier Streichquartettmusiker dieses Abends: Ekaterina Kushvid-Heckmair (Violine), Thomas Brogsitter (Violine), Julie Wagner (Viola) und Christian Schuhknecht (Violoncello), allesamt "amtlich bestellte" Mitglieder der Nordwestdeutschen Philharmonie.
Trotz ihres gut gefüllten Orchesterdienstplanes – die NWD versorgt musikalisch allein insgesamt sechs Konzertbühnen – treffen sich diese Instrumentalisten zusätzlich regelmäßig, um Streichquartett zu spielen und frönen damit einer Leidenschaft, die zum einen sicher durch die höchst umfangreiche Literatur für diese Kammermusikgattung unterstützt wird, aber vielleicht auch in der Autonomie, Reinheit und Vollkommenheit dieser Ensemblestruktur, über die in der Musikliteratur viel reflektiert wird, ihre Motivation findet.
Es sollte ein höchst beeindruckender Konzertabend werden in dem bis auf den letzten Platz besetzten, geschichtsträchtigen Ahnensaal des Detmolder Schlosses mit Galerien von Gemälden der Vorfahren der fürstlichen Familie, die selbst vollständig mit Prinz Armin, Gattin Prinzessin Traute, den Kindern und fünf Enkeln vertreten war. Gleich die Konzerteröffnung mit dem Streichquartett Nr. 1 op. 11 von Peter I. Tschaikowskij entwickelte sich nach wunderbar schwingender Romantik, begeisternden Soli von Cello und Violine und einem ausdrucksvoll interpretierten, fast sinfonischen Abschluss des 1. Satzes, über ein höchst einfühlsam musiziertes gesangliches, fast choralähnliches Andante cantabile und das markant gespielten Scherzo im Finale zu einer derartig atemberaubenden Brillanz mit phänomenalem Zusammenspiel von Violinen, Viola und Cello bei den begeisternden Themenablösungen, dass Jansen nach der effektvollen Schlussphase treffend kommentierte: "Haben Sie eben schon Ihren Puls gemessen?"
Eine Love-Story nannte Jansen das einsätzige Andante mesto "Crisantemi" von Giacomo Puccini, das er anlässlich des Todes des von ihm verehrten Herzogs von Aosta im Jahre 1890 schrieb und mit seinen schwebenden gesanglichen Kantilenen bereits kurz nach seiner Uraufführung trotz seiner Kürze (zirka 5 Minuten) beachtliche Erfolge erntete und hier vom NWD-Streichquartett mit wunderbarem Schmelz sensibel zu beeindruckend schöner "Chrysanthemenblüte" entfacht werden konnte.
Einen überraschenden musikalischen Zenit bildete der 1905 komponierte "Langsame Satz für Streichquartett" von Anton Webern. Diese, von Webern selbst als "reines Studienwerk" bezeichnete Komposition entpuppte sich zu einem großartigen spätromantischem Juwel mit betörenden Themen und faszinierenden harmonischen Wendungen, von den NWD-Musikern höchst beeindruckend musiziert, mit großen, espressivo-ausgespielten Themenbögen, einem schönen Bratschensolo mit filigraner Streicherbegleitung, und bei der mit großer Dynamik begeisternd interpretierten Abschlusssequenz konnte der Zuhörer sich zwischenzeitlich nicht des Gedankens erwehren, er vernehme gerade eines der späten Streichquartette von Johannes Brahms.
Über der Partitur des Streichquartettes Nr. 8 op. 110 von Dmitri Schostakowitsch, dem abschließenden Werk des Abends, stehen die Worte "Dem Gedenken der Opfer von Faschismus und Krieg", durch die in allen fünf Sätzen als Leitmotiv verwendete Tonfolge D-Es (Schostakowitschs Namenskürzel) erhält diese Aussage jedoch auch einen persönlichen Fingerabdruck: Der Komponist selbst als Opfer von Verfolgung. "Das Quartett ist eine Anklage gegen jegliche Form von Gewaltherrschaft" (Jürgen Ostmann). Diese Grundaussage vernahm der Zuhörer gleich zu Beginn bei der melancholischen Largo-Einleitung, bestimmt aber auch insgesamt den musikalischen Ausdruckscharater dieses Streichquartetts, abgesehen vom 2. und 3. Satz, deren verwobene Quirligkeiten die NWD-Musiker mit ungarischem Feuer brillant meisterten. Das abschließende Largo kennzeichneten immer wieder drei harte Fortissimo-Akkorde der unteren Streicher als eine Art "Störfeuer" zwischen warmen, ruhigen und wunderbar ausgespielten spätromantischen Klangflächen, die alle Musiker derart eindrucksvoll im Pianissimo verklingen ließen, dass intensiver Applaus erst erheblich später einsetzte.