BAD NENNDORF (jl). 13. Juli 1870, auf dem Telegrafenamt zu Ems: Ein pflicht- wie sprachbewusster preußischer Beamter verkürzt das Telegramm von Heinrich Abeken an den Ministerpräsidenten Otto von Bismarck, die sogenannte "Emser Depesche", um die Kosten dafür um zwei Drittel zu reduzieren. Dass er damit einen viele Millionen Goldmark teuren Krieg auslöste, konnte er ja nicht ahnen – Geschichte, wie sie zwar in keinem Schulbuch zu finden ist, dafür aber in "Kolumbus kam nur bis Hannibal" von Johano Strasser. Am vergangenen Freitag hat der Schriftsteller, Politologe und Philosoph aus diesem Werk subversiver Umwandlungen historischer Ereignisse vorgelesen. Den Weg in das licht- und damit auch hitzedurchflutete "Haus Kassel" fanden zwar nur rund 20 Zuhörer, dafür stürzten sie sich aber geradezu auf das 2010 erschienene Buch und nahmen kurzweiliges Schlangestehen bei der kleinen Autogrammstunde in Kauf. Strasser signierte fleißig und bekam sogar prompt einen Kugelschreiber geschenkt. Eingeladen zu der Lesung hatte der Bundestagsabgeordnete Sebastian Edathy zusammen mit dem SPD-Ortsverein Bad Nenndorf und dem Bündnis "Bad Nenndorf ist bunt".
"Es könnte auch ganz anders gewesen sein", lautet das Motto des Buches. Und wie anders die vertrauten Historienerzählungen hätten ausgehen können, verdeutlichte der 74-Jährige mit sechs der insgesamt 14 Geschichten. Aus verkaufstechnischen Gründen, wie Strasser schmunzelnd verriet, werde er die Titelgeschichte selbstverständlich nicht vorlesen und damit nicht verraten, was Haniball mit Kolumbus zu tun hat. Dafür las er etwa von Dichtern, die im Auftrag des Herrn dessen "missglückte Schöpfung" mit Schreibmaschinen auf weißen Blättern verbessert haben; wie es 732 n. Chr. durch eine vorübergehenden Erscheinung kam, "dass die Nachwelt die Wahrheit über das, was auf den Feldern zwischen Tours und Poitiers wirklich geschehen war, nie erfuhr"; von Heinrich IV., dem 1077 n. Chr. auf dem Weg nach Canossa ein "zerlumpter Kerl" beinah die diplomatische Mission versaute, und vom Zusammenbruch der DDR – "Niemand weiß, wie es wirklich war. In diesem Buch hier steht es wirklich", kündigte der gebürtige Niederländer und langjährige Präsident der deutschen Schriftstellervereinigung "PEN"-Zentrum an. Demnach hat die "Gruppe Loblied" mehr mit dem Mauerfall zu tun als wir bisher annahmen – eine fiktive Geschichte mit echtem Stasi-Jargon.
Wie man darauf komme solche Geschichten zu schreiben, wollte eine Zuhörerin wissen. "Weil die Geschichte, wie sie in den Geschichtsbüchern steht, ein Konstrukt ist,", erklärte Strasser. Im Nachhinein betrachtet sei sie genau so folgerichtig und bekomme dadurch eine Zwangsläufigkeit. Aus dieser auszubrechen liebe der Schriftsteller. Und merkwürdige Details, sogar urkundlich belegt, gebe es genug. Da habe er sich gedacht, dass es auf ein paar mehr verrückte Dinge auch nicht mehr ankomme. So sind Geschichten entstanden, wie sie zwar in keinem Schulbuch zu finden sind, dafür aber in "Kolumbus kam nur bis Hannibal" von Johano Strasser Foto: jl
