E
s gibt ihn hochgewachsen, kurzgedrungen, feinnadelig, mit dichten und mit lichten Zweigen. Er ist Fichte, Blautanne oder Nordmannstanne, aufblasbar, aufklappbar, mit diesen Eigenschaften sogar wiederverwertbar. Er ist geschmückt mit Strohsternen, Wichtelzwergen, Baumkugeln, Glitzerpuder, Holzengeln, Zuckerstangen, Orangenscheiben, Lamettastreifen, bunten Schleifen, kleinen Glöckchen, künstlichen Schneeflöckchen, Porzellanzapfen, Wachskerzen, Lebkuchenherzen, Perlenschnüren oder Lichterketten. Unter ihm liegen, liebevoll drapiert, kleine, große, schwere, teure, bunte, leichte, runde oder längliche Geschenke, eingepackt in feines Seidenpapier, bemalte Dosen, schnödes Packpapier, bunte Schachteln, verziert und mitunter fest verschnürt mit gefächerten Schleifen, immergrünen Efeuranken, gekringelten Bändern und beschriebenen Kärtchen.
Nun, wie sollte es auch anders sein: Die Rede ist vom Weihnachtsbaum. Und wie der vierundzwanzigste Dezember in jedem Jahr zum traditionellen Fest gehört, so ist die immergrüne Baumart für mich bereits seit Kindertagen fester Bestandteil der alljährlichen Feierlichkeiten - Ebenso wie der alljährliche Streit mit den übrigen Familienmitgliedern am Heiligen Abend. Soll das gute, zwei Meter hochgewachsene Schmuckstück nun in den warmen Farben Grün und Gold behangen werden? Oder doch lieber etwas frostiger, dabei jedoch nicht minder stilvoll, in Silber und Blau? Oder sollten wir uns gar einmal an der gewagten Kombi Pink-Orange versuchen? Lila, das soll doch nun gerade fürchterlich "in" sein. Die Diskussion um die stimmigste Farbkomposition zieht sich hin, spitzt sich zu, wird gar zu einer Verteidigung der eigenen geschmacklichen Ehre und schließlich spricht die Mutter der Familie das Machtwort: Der Klassiker Gold und Rot sah im letzten Jahr schön aus, sieht auch in diesem Jahr schön aus. Punktum.
Diese, alljährlich mit Händen und Füßen ausgefochtende, Grundsatzdebatte findet an dieser Stelle also ein jähes Ende. Nun könnte es, nach dem reichlichen Erhitzen der Gemüter, doch eigentlich losgehen mit dem Schmücken - sollte man meinen. Doch der große Dekostress beginnt erst noch: Der körperliche und bisweilen sogar verletzungsträchtige Kampf mit der, obwohl im letzten Jahr so sorgsam aufgerollten, und dennoch hoffnungslos verhedderten, Lichterkette nimmt seinen Anfang. Mit all meinen gesammelten Kräften und zackigen Richtungsanweisungen von unten, stehe ich auf einem hohen Stuhl und versuche, die Kette wie ein Lasso um die Tannenspitze zu schleudern. Das geht manchmal gut, manchmal auch nicht. Am Ende jedenfalls, hat sich die glitzernde Strippe doch noch in wackeligen Bahnen um den Baum geschlungen. Der Test an der Steckdose zeigt: Die Hälfte der Birnchen leuchtet nicht mehr. Egal. Nun werden, wie in jedem Jahr, die Christbaumkugeln an die Zweige gehängt. Die großen nach unten, die kleinen nach oben. So gehört sich das.
Der dritte Schritt des traditionellen Baumschmückens umfasst das Drapieren der immergrünen Zweige mit Schleifen, Glasengeln und roten Vogelbeeren aus Kunststoff. Sieht doch, im Gesamtpaket betrachtet, gar nicht übel aus. Ein goldener, überdimensionaler Glitzerstern, oben auf die Tannenspitze gedrückt, krönt das große Familienwerk. Fix und fertig, könnte man annehmen. Doch weit gefehlt. Der bedeutsamste Akt der Schmückzeremonie kommt erst noch: Die Herrin des Hauses besteht auf das Anbringen echter Wachskerzen auf den wackeligen Zweigen. "Ohne richtige Baumkerzen ist es kein richtiger Weihnachtsbaum", so heißt es immer. Gesagt getan, die Kerzen werden zwischen die Nadeln geklemmt und wie immer sage ich mir still und leise und so, dass es garantiert niemand hört: "Also ich glaube ja nicht, dass das den ganzen Abend hält."
Am Ende des Projektes stehen wir alle da: Mit zerzausten Haaren, glühenden Gesichtern und dem innigen Wunsch nach einer wohltuenden Dusche und einer heißen Milch mit Honig, betrachtet die Familie ihr, im Angesicht des Schweißes geschaffenes, Kunstwerk und nickt sich zuletzt doch noch friedvoll und zufrieden zu.
So steht er nun da, der in Sekundenschnelle gefällte, glitzernde Baum, der einst, bevor er seinen Platz in unserem Wohnzimmer fand, gut und gerne acht Sommer und Winter lang auf einer Wiese stand, um fleißig in die Höhe zu wachsen und Eichhörnchen und Amselküken Schutz vor Wind und Sonne gab, nur um später von Lichterketten umschlungen vierzehn Tage lang in einem beheizten Raum zu stehen und stetig seine Nadeln zu verlieren. Und ich muss zugeben, wenn der Tag gekommen ist, an dem unser, für südhaft teures Geld erworbene Baum hektisch abgeschmückt und mit einzelnen, vergessenen Lamettafäden in den Zweigen, achtlos im Schneematsch vor dem Haus liegt und mit seinem trockenen Stumpf langsam vor sich hin welkt, nur um am Ende im Schredder auf der Grünabfallanlage zu enden, dann tut mir das arme Ding tatsächlich ein bisschen leid. Und vielleicht, so denke ich bei mir, ist gerade dies dem alljährlichen Weihnachtszauber zuzuschreiben: Dass es sich beizeiten lohnt, sich dem Wert der kleinen Dinge und im weitesten Sinne der Natur bewusst zu werden. Dass es ratsam ist, in stillen Momenten die eigenen Verhaltensweisen im Grundsatz zu überdenken. Oder hin und wieder auch einmal ganz bescheiden zu bleiben. Im nächsten Jahr könnte ich im heimischen Wohnzimmer ja vielleicht mal einen wiederverwertbaren Christbaum aufstellen. Einen, aus Kunststoff. Einen feuerfesten, dessen Nadeln nicht pieksen. Einen, den man zusammenklappen und feinsäuberlich im Schrank verstauen kann. Und vor allem einen, der auch in Knall-Lila zum Schreien festlich aussieht.
2 Fotos: Fotolia-Ordner, Unterordner "Weihnachten"
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