APELERN/RODENBERG (al). Sein Auge fällt auf alles, was alt ist. Der Eigentümer der Apelerner Riesenmühle, Veit Richter, hat schon eine Menge Relikte alter Handwerkskunst oder Mühlentechnik gesammelt. Schließlich stammt sein Besitz mindestens aus dem 16. jahrhundert, als die Mühle noch den Herren von Münchhausen gehörte. Mitunter blättert der 74-Jährige in einer Mappe mit allerlei Dokumenten. Immer wieder nimmt er dabei eine Ansichtskarte zur Hand, die ihm keine Ruhe lässt. Die Bilder dokumentieren einen Mordfall im westpreußischen Konitz. Was ihn aber noch mehr beunruhigt: Die Karte wurde nach Rodenberg geschickt. "Ob es da wohl einen Zusammenhang gibt", rätselt der Besitzer.
Kurios und gruselig: Spektakulärer Mordfall auf einem Kartenbild.
Der Mord an dem damals 18-jährigen Ernst Winter am 11. März 1900 gehört zu den bis heute ungelösten Fällen der Kriminalgeschichte. Erst vor wenigen Jahren ist eine neue Dokumentation über die damaligen Ereignisse erschienen, die Verleumdungen und Ritualmordvermutungen, militärische Eingriffe und sogar Parlamentsdebatten nach sich zogen. Insgesamt soll es 90 Gerichtsverfahren gegeben haben. Doch der Täter wurde nie überführt.
Zwei Tage nach dem spurlosen Verschwinden des Abiturienten entdeckte dessen Vater Leichenteile in einem nahe gelegenen See. Die fachmännisch abgetrennten Gliedmaßen ließen den Verdacht auf einen christlichen Schlachtermeister fallen. Weitere Ermittlungen galten einem jüdischen Schächter, weil bei der Obduktion eine Blutleere im Körper des Getöteten ermittelt worden war. Daraufhin begann eine Hetzkampagne, die von antisemitischen Zeitungen und Politikern angestrengt wurde.
Bemerkenswert war die Höhe der Belohnung. Noch nie zuvor hatte der preußische Staat die Summe von 20.000 Mark ausgelobt. Das entsprach dem 20-fachen Jahresgehalt eines Industriearbeiters. Um das Ereignis und die ausgesetzte Belohnung noch bekannter zu machen, wurde offenbar die "Gedächtnisskarte" aufgelegt.
Ansichtskarten waren um die Jahrhundertwende in Mode gekommen und fanden weite Verbreitung. Oft wurden sie auch aufgrund besonderer Ereignisse aufgelegt. Auf diese Weise wurde auch der mysteriöse Mord in alle Welt gesandt.
Eine Karte, die eine Ansicht von Konitz, das Porträt des Getöteten und die Bekanntmachung der Belohnung enthält, ist dabei nach Rodenberg gelangt. Sie war an den dortigen "Stadtbriefträger Müller" adressiert und enthielt den handschriftlichen Hinweis von "Fr. Lasinski": "Sämtliche Postsachen an meine Adresse bleiben in Rodenberg."
Zu gern würde Richter erfahren, ob es mit diesen wenigen Zeilen einen Zusammenhang zwischen Konitz und der Stadt Rodenberg gibt. Ein Indiz will Richter selbst gefunden haben. Es ist eine Namensgleichheit: In der Grover Straße gab es einst ein Lebensmittelgeschäft mit Namen Winter.
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