BAD NENNDORF. Lang ist der Atem, den der Zuschauer aufbringen muss. Es vergehen immerhin 45 Minuten, ehe Pilatus überhaupt erscheint. Wen sehen wir statt dessen? "Jeschua" im Alleingang: "Beichte eines zum Tode Verurteilten am Abend seiner Verhaftung", wie es im Roman heißt. Wie ist das alles gekommen? Er weiß es selber kaum, weiß kaum, wie es kam, dass er einen offensichtlich Toten zum Leben zu erwecken vermochte. Blick zurück also in großer Naivität, in Kindlichkeit geradezu. Das alles bekundet Jürgen Clemens eindrucksvoll, variationsreich auch dadurch, dass er Dialoge suggeriert mit Leuten, die ihm im Verlauf seiner Wirksamkeit begegnet sind. Gern hätte man wohl einige dieser Figuren auf der Bühne gesehen, wie es den Zuschauern beschieden war, als sie neben Pilatus den sehr dezidierten Schreiber Sextus (Fritz-Peter Schmidle), die Giftnudel Königin Herodias (Dana Cebulla), den armen Joseph von Arimathäa (Frank Ferner) oder schließlich den sanftmütigen Johanaan (Jürgen Clemens) wahrnehmen konnten.
Oskar Wedel
All das zu vermitteln, hatte sich Walter Ullrich vorgenommen, Intendant der Landesbühne Rheinland-Pfalz. Selbst schon hoch in den Jahren, zeichnet er für die "Leitung" der Aufführung, wie er es im Programm formuliert, und streicht auch gleich noch den Pontius Pilatus für sich selbst ein.. Und da haben wir ihn denn: den, der umso unsicherer wird, je mehr er auftrumpft, ein Hasenfuß geradezu, je mehr ihm die Angst im Rücken sitzt, vom Rücken durch die Brust ins Auge getroffen zu werden. Das bringt Walter Ullrich meisterlich, getreu der Beschreibung, die Pilatus im Roman selbst von sich gibt: "Ich habe ein paar Gewissheiten eingebüßt: die Gewissheit, mein Leben zu meistern, die Gewissheit, die Menschen zu kennen. Vorher war ich ein wissender Römer, jetzt bin ich ein zweifelnder Römer." Da lacht Claudia, seine Frau, und erwidert: "Zweifel und Glauben sind dasselbe, Pilatus, nur Gleichgültigkeit ist gottlos."
Vorausgegangen ist der Auftritt eines brutalen Potentaten, der ums brutaler durchgreifen muss. Je bedrohlicher ihm der friedfertigste, leiseste, hilfloseste, soeben am Kreuz verendete Jeschua zu werden erscheint. Heißt es doch, er sei auferstanden. Wer kann gegen einen Auferstandenen etwas ausrichten? Niemand. Gar nicht auszudenken, er würde mit seiner Gefolgschaft Front machen gegen einen Vertrauensmann des römischen Kaisers. Das bringt Pilatus in äußerste Bedrängnis. In diese Bedrängnis muss sich das Evangelium bereits eingenistet haben, das vor nichts und niemandem Halt macht. Seine Liebe durchdringt das härteste Herz, mag auch der Klotz Pilatus lautstark aufbegehren gegen den Zuspruch, dass selbst er von Jeschua geliebt werde. Im Moment der Ablehnung aber wird ihm klar, dass er als Jäger zum Gejagten wird und "sich zurückzieht ins Halbdunkel, um sich vor Jeschuas unerträglicher Güte zu schützen", wie es im Roman von Eric-Emmanuel Schmitt heißt, der die Vorlage fürs Theaterstück liefert.
Zwar wurde nicht Neues gebracht, Altes aber neu aufgemischt, so neu, dass man nach eineinhalb Stunden nicht ungerührt den Raum verlassen konnte.