1. "Ich fühlte mich nirgendwo mehr in Sicherheit"

    Ein Mobbingopfer berichtet / Die Omnipräsenz des Internets lässt Hemmschwelle sinken / Selbstbewusstsein stärken

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    LANDKREIS (jl). Irgendwann war es so schlimm, dass der Arzt sie einen Monat krankschrieb. "Mir ging es richtig schlecht", sagt Marie Maurer (Name von der Redaktion geändert). Das Schlimme: Selbst zu Hause, an ihrem Zufluchtsort, wurde sie von ihren Klassenkameraden via Smartphone weiter schikaniert und belästigt. Cybermobbing: Ein Begriff, der immer mehr zum Thema wird. Ein Begriff, der aber auch nur schwer zu definieren ist. Ein Begriff, der uns alle etwas angeht. Marie ist kein Einzelfall Das Gefühl von Hilflosigkeit Ein gesellschaftliches Grundproblem Stärkung des Selbstbewusstseins Der digitalisierte Klebezettel Zwischen Medienkompetenz und Wertevermittlung Marie ist ein hübsches Mädchen mit einem strahlenden Lächeln. Wenn sie denn lächelt. Das Erlebte kratzt noch immer an ihrer Seele. Was mit einer normalen, so dachte sie zumindest, Streiterei unter Freundinnen 2014 begonnen hat, machte ihr schnell das Leben zur Hölle. Erst sei schlecht über sie geredet worden, erinnert sich die heute 17-Jährige leise, "und irgendwann war ich alleine". Sie wurde komplett ausgegrenzt, beleidigt, mit Müll und Essensresten beworfen. Jeden Tag, sagt die enttäuschte Schülerin, habe sie geweint: "Mir ging es richtig schlecht." Das Schlimme daran: Die Schikanen endeten auch zu Hause nicht. Denn über das Handy ging der Terror weiter. Sie bekam beleidigende Sprachnachrichten, gesungene Texte, die sie persönlich angriffen und verletzten. "Ich fühlte mich nirgendwo mehr in Sicherheit und konnte mich nicht mehr zurückziehen." Und das über Jahre. Erst im Sommer 2017 wechselte sie die Schule. Die kommunikative Nutzung des Internets ist auf dem Vormarsch - und mit der Omnipräsenz auch das Risiko. Ab der siebten Klasse habe nahezu jeder Schüler ein Smartphone, hält Kreisjugendpfleger Andreas Woitke fest. Selbst bei den Grundschülern liege der Anteil schon bei 60 Prozent. Vergleichbare Zahlen zum Thema Mobbing im Internet liefert die JIM-Studie, die der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest (mpfs) seit 1998 jährlich durchführt. JIM steht für Jugend, Information und Multimedia, eine Basisuntersuchung zum Medienumgang der 12- bis 19-Jährigen in Deutschland. Nach den aktuellen Zahlen von 2017 sagen zwei Fünftel der Jugendlichen, dass in ihrem Bekanntenkreis schon mal jemand im Internet "fertig gemacht" wurde. Ein Wert, der - mit Ausnahme in 2016 -über die Jahre stetig gestiegen ist. 2010 bejahte nur ein Viertel der Heranwachsenden diese Aussage. Der Anteil wächst übrigens mit zunehmendem Alter. Schon einmal selbst als Opfer von Mobbing sahen sich acht Prozent der Altersgruppe. Das entsprach 2016 etwa 500.000 jungen Menschen in der Bundesrepublik. Diese Angabe blieb bisher relativ stabil - 2013 waren es sieben Prozent. Am stärksten betroffen sind 16- bis 17-Jährige. Dabei scheint der Bildungshintergrund eine Rolle zu spielen. Laut den Studien sind die Fallzahlen bei Haupt- und Realschülern deutlich höher als bei Gymnasiasten. "Ich bin vorsichtiger geworden", beschreibt Marie ihr verändertes Verhalten. In der neuen Klasse habe sie sich anfangs nicht getraut, nur ein Wort zu sagen und die Mitschüler bloß beobachtet, erzählt sie stockend. Tränen laufen ihr über die Wangen. Sie ringt um Worte. Ihr Vater, der in Sichtweite gesessen hat, kommt herüber und nimmt sie in den Arm. Was er gefühlt hat, als er von dem Mobbing erfuhr? "Hilflosigkeit im ersten Moment. Wut. Hass teilweise, wenn man sieht, dass das eigene Kind sein Lächeln verliert, nachts nicht mehr schläft und in einer Tour kränkelt." Vater und Tochter werfen der Schule vor, sie habe sie belehren wollen, statt das Anliegen ernst zu nehmen. Aussagen zu konkreten Fällen wolle und dürfe sie nicht machen, lässt die Schulleitung der betroffenen Bildungseinrichtung verlauten. Generell sei es aber so: "Jedes Kind und jede Situation muss individuell gesehen werden." Für Lehrkräfte gebe es "No Blame Approach"-Lehrgänge zur lösungsorientierten Vorgehensweise bei Mobbing-Problematiken. Zudem werde schulübergreifend und landkreisweit in Vorträgen und Workshops der kritische Umgang mit Medien geschult. Ja, Mobbing im Internet sei auch für Schulen eine schwierige Situation, heißt es seitens der Leitung. Aber nein, es sei kein schulspezifisches Problem: "Die Präsenz der sozialen Medien ist ein Grundproblem, dem sich die gesamte Gesellschaft stellen muss." Ebenso wenig sei es richtig, das Thema in Bezug auf eine Schulform zu polarisieren. Ein unterschiedlicher Häufigkeitsfaktor ließe sich im Erfahrungsaustausch mit anderen Kollegen schlichtweg nicht bestätigen. Zudem werde der Mobbing-Begriff gerade in Online-Netzwerken "verwässert". "Und irgendwann konnte ich nicht mehr", berichtet Marie weiter. Ihr Arzt schrieb sie einen Monat lang krank. Sie wollte und musste etwas ändern und suchte etwas, das ihr Selbstbewusstsein stärkt. Das ihr wieder Rückgrat gibt. Sie fand es in den Selbstverteidigungskursen der Schaumburger "Krav Maga"-Schule. "Das hat mich voll begeistert", strahlt Marie. "Und ich habe mich sofort wohlgefühlt." Die dortige Gruppe gab ihr gleich Gemeinschaft und Zusammenhalt. "Die Leute haben mir gezeigt, dass ich nicht so scheiße bin, wie es mir die anderen in der Schule immer gezeigt haben." "Heute ist es einfach einen zu mobben", sagt der "Krav Maga"-Leiter Ulf Reinecke. In seinen Kursen trainieren nach seinen Angaben zwei weitere Mobbing-Opfer. Denn - das bestätigt auch "mpfs"- unter der vermeintlichen Anonymität des Internets ist für manche Jugendliche die Hemmschwelle geringer, Dinge zu schreiben, die sie ihrem Gegenüber persönlich nie mitteilen würden. Eine Problematik, die auch Kreissozialarbeiter Woitke sieht. Den Zettel, der seinerzeit auf dem Rücken eines Klassenkameraden geklebt hat, gebe es nicht mehr. "Heute ist er digitalisiert und heißt Internet und das verliert und vergisst gar nichts", mahnt er. Der Klebezettel fiel ab und blieb auf dem Boden liegen. Mit dem Handy aber gingen Verleumdungen und Beschimpfungen digital eine Runde weiter. Dadurch seien sie allgegenwärtig. Das hat trotz Definitionsschwierigkeiten auch der Südwest-Forschungsverbund festgestellt: Obwohl das Schlagwort Mobbing, wie es meist von Schülern verwendet werde, nicht immer das meine, was Fachleute unter dem Begriff zusammenfassten, so sei die Problematik unter Jugendlichen präsent. "Die Frage ist, wie damit umgegangen wird", sagt der Kreisjugendpfleger. "Das ist eine Herausforderung, der man sich stellen muss." Er sagt bewusst "man". Denn Werte und Normen, die Bedeutung von Moral und Ethik sowie Medienkompetenz sollten die gesamte Gesellschaft beschäftigen. "Das müssen wir den Kids vermitteln", fordert er. Und mit "wir" meint er alle, die sich mit Kindern beschäftigen: ob Eltern, Erzieher, Lehrer oder Jugendbetreuer in Vereinen. Mit unterschiedlichen Angeboten - zum Beispiel gibt es eine Medienkoordinatorin, die Workshops durchführt - treibe auch der Landkreis die präventive Arbeit voran. Foto: jl

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